Stallungen, Charlotte Wagner, klassische Reitkunst
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Ist die vertikale Flexion überbewertet?

Ich frage mich manches Mal, ob das Pferd für einige Reiter nur aus Kopf, Hals und Hinterhand besteht. Ist der Kopf in einer tiefen Position, am besten mit der Stirn-Nasen-Linie hinter der Senkrechten so scheint für die meisten Reiter alles in Ordnung zu sein. Dann soll bitte die Hinterhand in der Bewegung noch tief untertreten. Um dies zu erreichen wird wie besessen mit den Reiterschenkeln gearbeitet. Da das Pferd nach dieser Prozedur Verspannungen der Muskulatur aufweist, wird regelmäßig der Physiotherapeut oder Osteopath hinzugezogen. Probleme an den Pferdebeinen scheinen mindestens einmal im Pferdeleben „normal“ zu sein. Und dass die Kuhlen hinter den Schulterblättern im Laufe der Zeit immer tiefer werden, ist halt bei den modernen Warmblütern so. Ein gutes Konzept, das das Pferd als Lebewesen mit einem Gehirn zwischen den Ohren wahrnimmt und sich um dessen systematischen Muskelaufbau bemüht sowie die optimale Balance in der Bewegung als Ziel hat, treffe ich selten an.

Gerade die jungen Pferde brauchen um ihre Balance unter dem Reiter zu finden ihren Hals zum ausbalancieren und es gleicht einer sportphysiologischen Katastrophe diese jungen Pferde zu sehr an die Hand zu stellen. Aber genau das ist das gängige Bild: die Pferdenase zeigt in Richtung der Pferdebrust und der Hals wird „rund“ gezogen. Eine korrekte Arbeits- und Dehnungshaltung mit leicht offenem Genickwinkel scheint der moderne Reiter nicht zu kennen.

Es ist natürlich auch wirklich schwierig, sich einen für das Pferd guten Weg zu suchen, wimmelt es doch nur so von großen Vorbildern im großen Sport, die ihre Pferde genau nach den oben genannten Kriterien trainieren: also Kopf tief, Hals rund!

Ich frage mich da: sehen die Leute denn nicht, dass die Erstplatzierten der Weltreiterspiele nicht mal eine Ecke reiten können, in der die Biegung korrekt eingestellt ist und das Pferd nicht mit der Hinterhand herausschleudert? Die Traversalen mit im Genick verworfenen Pferdeköpfen. Die Grundgangarten mit massiven Taktfehlern, ganz zu schweigen von den Piaffen. Gut piaffieren ist auch nicht so einfach, vor allem nicht, wenn die Pferde so massiv auf die Vorhand geritten sind. Aber Moment…sind das nicht eigentlich die besten Reiter der Welt????

Wenn man mal nachschaut wieviele junge vielversprechende Bewegungskünstler unter den Pferden über mehrere Jahre im Turniersport einsetzbar sind und ein einigermaßen hohes Alter erreichen, so sieht es sehr mau aus. Man könnte also sagen: „Highway to hell“ oder „Training to death“.

Warum? Ich verstehe es einfach nicht, warum die Reiterszene so hartnäckig ein Trainingssystem verfolgt, das nachweislich zu gesundheitlichen Problemen der Pferde führt. Und nicht nur das! Regelmäßig bekomme ich in den Reitställen zum Teil massive Gegenwehr der Pferde zu sehen. Dann heißt es: Der Gaul spinnt. Spätestens wenn der Reiter dem widersetzlichen Pferd nicht mehr Herr wird, wird dieses weggegeben. Steigen, Bocken, mit dem Kopf schlagen, durchgehen sind ja keine Seltenheiten bei diesen Pferden.

Dabei könnte es so einfach und harmonisch sein!

Dem Pferd ein paar Grundregeln im gemeinsamen Miteinander beigebracht, ein wenig Bodenarbeit, dem Pferd erklären, was Schenkel, Zügel, Gebiss usw. bedeuten, also das Etablieren einer gemeinsamen Sprache und eines respektvollen Umgangs miteinander, und schon ist eine gute Grundlage geschaffen.

Erst jetzt kann man sich um die Ausbildung als REITpferd bemühen. Und dafür sollte man sein eigenes Gehirn mehr bemühen als die Kraftausdauer der Arme und Beine. Wie lernt mein Pferd? Wie erkläre ich’s ihm am besten? Was für Übungen sind sinnvoll für mein Pferd? Wo genau liegen eventuell körperliche Schwächen, die es gezielt zu bearbeiten gilt? Wie stelle ich die jeweils beste Balance her? Die Liste der Fragen ließe sich beliebig erweitern und die wenigsten Reiter und auch Reitlehrer können gute und stichhaltige Antworten darauf geben.

Hauptsache der Kopf ist unten! Die vertikale Flexion wird definitiv überbewertet!

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