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Reitpferdeausbildung – mit Gebiß oder gebißlos?

Eine kritische Betrachtung der Reitpferdeausbildung

In der Reitpferdeausbildung wird sehr häufig, gerade im Freizeitreiterbereich die Frage gestellt, ob es nicht pferdefreundlicher sei ohne ein Gebiss im Pferdemaul zu reiten. Ich sehe als Trainerin sehr häufig Reiter, die ihre Pferde gebisslos ausbilden und reiten. Was mich dabei oft erstaunt ist, dass es den meisten sehr leicht fällt, ein scharfes Nasenteil zu benutzen. Dabei werden Kappzäume mit harten Naseneisen verwendet oder auch Zäumungen mit starker Hebelwirkung wie beispielsweise das Hackamore, um das Pferd beeinflussen zu können. Zumeist laufen die Pferde in entspannter Haltung auf der Vorhand dahin. Dagegen ist nichts zu sagen, sofern diese Art des Reitens eine gelungene Abwechslung zur sonstigen Ausbildung darstellt. Die zielgerichtete Ausbildung hin zu einem korrekten Bewegungsablauf und einer gut aufgebauten Muskulatur als Voraussetzung, das Reitergewicht lange unbeschadet tragen zu können, ersetzt diese Art des Reitens jedoch nicht.

Zunächst einmal sollte man sich an diesem Punkt die Frage stellen, was das Ziel einer jeden Pferdeausbildung sein sollte. Das Ziel liegt erst einmal darin, eine gemeinsame Sprache zu etablieren, so dass sich Pferd und Mensch überhaupt verständigen können. Diese gemeinsame Sprache sollte auf Verständnis und Partnerschaft aufbauen und nicht auf Gewalt und Unterdrückung des Pferdes. Das bedeutet, dass sich der Mensch und das Pferd ein gemeinsames Vokabular erarbeiten müssen, bevor man überhaupt an das Reiten  denkt. Dies kann in der freien Arbeit mit dem Pferd erfolgen oder auch am Halfter mit Leitseil oder eben einem Kappzaum mit Longe. Völlig fehl am Platz sind hier allerdings scharfe Zäumungen mit Hebelwirkung und auch scharf wirkende Kappzäume. Gerade die derzeit so beliebten spanischen Zäume mit lederummanteltem jedoch harten Metallkern wirken mit hohen punktuellen Druckspitzen auf die Nasen unserer Pferde und sind in ungeübten Händen fehlplatziert. Es ist schon für einen versierten Pferdetrainer extrem schwierig, zeitgerecht und differenziert einzuwirken und in jeder Situation mit einer korrekten Körpersprache zu arbeiten. Für den „Laien“ ist dies unmöglich. Aus diesen Gründen möchte ich jedem ans Herz legen, seine Finger von scharfen Zäumungen zu lassen, auch wenn diese gebisslos sind. Ich selbst benutze beispielsweise maßangefertigte Kappzäume aus weichem Biothane-Material. Sie sitzen gut am Pferdekopf, schmiegen sich diesem an und wenn das Pferd mal bockt, losspringt oder sich erschreckt und in den Zaum springt, sind keine Verletzungen oder negativen Erfahrungen mit dem Zaumzeug am Kopf zu erwarten. Das Pferd weise ich mit meiner Körpersprache in die Schranken und nicht mit einem harten Zaum! Vielmehr soll das Pferd Vertrauen in seine Ausrüstung gewinnen und dies kann nicht über Schmerzen erfolgen. Aus diesem Grund ist es auch zu unterlassen, ein Pferd am Gebiss zu longieren. Das Pferd soll Vertrauen in die Reiterhand entwickeln, die Einwirkungen verstehen und nicht fürchten lernen. Das Gleiche gilt für in das Gebiss eingeschnallte Hilfszügel. Weder mit der Longe noch mit Hilfszügeln ist eine feine differenzierte Einwirkung auf das Pferdemaul möglich.

„Eine Haltung ist nur dann von Nutzen, wenn das Pferd diese freiwillig einnimmt.“ (Philippe Karl)

Das erste Ziel ist erreicht, wenn das Pferd am Boden in alle Richtungen dirigiert werden kann, die Richtung der Schultern beeinflusst werden kann und das Pferd gelernt hat, seinem Menschen zu folgen und seine Körpersprache richtig zu interpretieren. Und wenn der Mensch gelernt hat, seine Körpersprache zielgerichtet und für das Pferd verständlich einzusetzen. Und all das ohne grobe Hilfsmittel. Das Pferd hat den Menschen als vertrauenswürdigen Partner akzeptiert, dem es getrost folgen kann. Dass die Entscheidungen des Menschen vom Pferd immer wieder in Frage gestellt werden, gehört zu einer Partnerschaft dazu. Gerade sehr dominante und intelligente Pferde hinterfragen immer wieder die vom Menschen getroffenen Entscheidungen und seine Führungsqualitäten.

Zu dem Zeitpunkt, an dem nun das Gebiss hinzukommt, ist die Beziehungsarbeit mit dem Pferd also schon relativ weit fortgeschritten. Im Idealfall ist es dem Menschen möglich, das Pferd ganz ohne Hilfsmittel zu dirigieren.

Wozu braucht man dann noch das Gebiss?

Zurück zur Definition der Ziele der Reitpferdeausbildung. Soll das Pferd nicht zum Reitpferd ausgebildet werden und nicht mit dem Gewicht des Menschen belastet werden, so reicht in der Tat das oben Beschriebene vollkommen aus, um mit seinem Pferd eine harmonische Beziehung zu führen. Entscheidend ist die Belastung des Pferdes mit dem Reitergewicht. Um als REITpferd gesund alt werden zu können – und mit alt meine ich nicht 15 oder 20 Jahre, sondern durchaus auch über 30 Jahre –  muss das Pferd andere Bewegungsmuster erlernen. Unter anderem muss es lernen, seinen Brustkorb aktiv über Muskelarbeit anzuheben, das Gewicht gleichmäßig auf alle vier Beine zu verteilen, die Hinterhand vermehrt zu belasten und die Vorhand zu entlasten, usw. Lernt es dies nicht, so sind die so häufigen Verschleißerscheinungen am Bewegungsapparat vorherzusehen. Diese sind der Hauptgrund für hohe Tierarztkosten, Ausgaben für Physiotherapeuten und schlussendlich die Erlösung des schmerzgeplagten ehemaligen Reitpferdes.

Und hier kommt nun das Gebiss ins Spiel. Zum feinen und sinnvollen Gebrauch des Gebisses hat der französische Ecuyer Philippe Karl einige Veröffentlichungen getätigt. Diese Lehren basieren auf jahrhundertealtem Wissen zur Reitpferdeausbildung und sind durch neue Erkenntnisse verfeinert worden. Über das Gebiss können gezielt Schluckbewegungen ausgelöst werden, die beim Pferd den Unterkiefer lockern. Da die Zunge über das Zungenbein indirekt mit den Hals- , Brust- und Rückenmuskeln verbunden ist, werden auch diese über die Schluckbewegungen gelockert. Zur Veranschaulichung sollen die folgenden Bilder dienen:

Anatomie Zungenbein
Quelle: Dr. W. Robert Cook
Quelle: Zeichnung, Philippe Karl

Der Gebrauch des Gebisses ist eine komplizierte und vor allem schwierige Angelegenheit, die man als Reiter systematisch erlernen muss. Denn das Gebiss ist sicher nicht dafür da, um daran zu ziehen und das Pferd irgendwie zum Anhalten, Abwenden oder sonst etwas zu veranlassen. Nein, es ist ein äußerst filigranes Kommunikationsmittel und nur als solches zu verstehen. Daher ist der Nasen- und der Sperrriemen nicht notwendig und auch unerwünscht. Das Pferd soll ein Mitspracherecht bekommen und zeigen, wenn ihm die Handeinwirkung des Reiters zu grob ist. Sperrt ein Pferd sein Maul auf, so stimmt die Einwirkung des Reiters nicht. Dies mit Nasen- oder gar Sperrriemen zu verhindern, ist eine Form der Tierquälerei. Es behebt ein Symptom, nicht die Ursache. Hier muss an der Ursache, nämlich der reiterlichen Einwirkung gearbeitet werden! Allein der stetige feinfühlige Kontakt von der Reiterhand zum Pferdemaul ist schwierig, von komplizierten Lektionen ganz zu schweigen. Je länger ich reite, je mehr ich praktisch dazu lerne, je mehr theoretische Abhandlungen ich studiere, usw., desto komplizierter und schwieriger erscheint es mir, ein wirklich guter und verantwortungsvoller Reiter zu werden. Ein Reiter, der die Verantwortung für ein langes gesundes Reitpferdeleben ernst nimmt. Ein Reiter, der eine freundschaftliche Partnerschaft zu seinem Pferd etablieren möchte. Ein Reiter, der eben nicht einfach nur des Reitens wegen sein Pferd hält. Am liebsten würde ich mehrmals täglich die Lehrgänge und Unterrichtsstunden erhalten, die ich besuche. Um immer wieder korrigiert zu werden, immer wieder von Außenstehenden begutachtet zu werden und auf meine Fehler hingewiesen zu werden. Ich fürchte jedoch, dass es wie bei vielem ist: je tiefer man in ein Thema einsteigt, desto mehr Fragen tun sich auf. Und oft erscheint mir das eigene Tun sehr unzulänglich. Und ich bedanke mich bei meinen Pferden, dass sie soviel Geduld mit mir haben. Und dass sie mich auf ihrem Rücken akzeptieren. Denn sie haben mich niemals darum gebeten, auf ihnen zu sitzen. Es ist also das Mindeste, Ihnen ein Mitspracherecht einzuräumen, sie fair und freundlich zu behandeln, für ihr lebenslängliches Wohl zu sorgen und sie vor Krankheiten zu bewahren, die der Mensch durch das Reiten verursacht.

„Das Geheimnis beim Reiten ist, Weniges richtig zu machen.“ (Nuno Oliveira) Und dahin zu kommen, dauert oft ein Leben lang oder noch länger.

Quelle: Zeichnung, Philippe Karl

Im Maul des Pferdes ist wenig Platz. Daher sollte das Gebiss für jedes Pferd individuell entsprechend der Maulbeschaffenheit sorgfältig gewählt werden. Durch das Entfernen von Nasen- und Sperrriemen kann das Pferd jederzeit sein Maul öffnen, um unangenehmem Druck zu entkommen. Die Zügeleinwirkung sollte niemals rückwärts erfolgen, wodurch die sensible Zunge des Pferdes gequetscht wird. Vielmehr sollte ein freundlicher und steter Kontakt zu den Maulwinkeln des Pferdes bestehen. Sehr oft wird die Analogie zum Tanz im Zusammenhang mit dem Reiten bemüht. Auch in Bezug auf das Führen des Pferdes mithilfe der Reiterhand, gerade in den Anfängen der Reitpferdeausbildung, ist der Vergleich passend. So wie der gute Tänzer seine Tanzpartnerin mit stetigem, aber sanftem Kontakt führt, so sollte der Reiter sein Pferd führen. Bricht der Kontakt gänzlich ab, um plötzlich abrupt wieder einzusetzen, wird das Pferd dem Reiter und insbesondere der Reiterhand kein Vertrauen entgegenbringen. Ganz wie die Tänzerin einer solch wechselhaften Führung des Tanzpartners nicht mehr vertrauensvoll folgen kann. Je weiter fortgeschritten ein Team ist, desto weniger Führung ist notwendig. Und schließlich reicht bei einem sehr fortgeschrittenen Pferd-Reiter-Paar die Kommunikation alleinig durch die Verbindung des Pferderückens mit dem Reitersitz. Die unterschiedlichen Bedeutungen der Gebisseinwirkung müssen dem Pferd genau wie dem Reiter systematisch und pädagogisch sinnvoll beigebracht werden.

Quelle: Zeichnung, Philippe Karl

Der Reiter sollte in der Lage sein, die Kopf-Halsposition seines Pferdes jederzeit zu ändern. Und eine korrekte Dehnungshaltung sollte kein Zufall sein, sondern jederzeit abrufbar. Über die korrekte Dehnung, seitliche Biegsamkeit, Verschieben der Pferdeschultern und schließlich auch Mobilisierung der Hinterhand erreicht man langfristig die muskuläre Kräftigung des Pferdes und schafft damit die Voraussetzungen, dass das Pferd den Reiter über die in positiver Spannung arbeitende Muskulatur schadlos tragen kann. Für diese notwendigen neuen Bewegungsmuster, die das Pferd schrittweise erlernt, ist das Gebiss äußerst hilfreich und unabdingbar. Sind die Bewegungsmuster etabliert und jederzeit korrekt abrufbar, ist das Reiten ohne Zäumung möglich, ohne zu Lasten der Gesundheit des Reitpferdes zu gehen. Es würde zu weit führen hier die gesamte Komplexität der Reitlehren und des Nutzens eines Gebisses auszuführen. Sicher ist das Gebiss auch nicht der einzige Parameter einer guten Reitpferdeausbildung. Fest steht, dass jedes Werkzeug immer nur so gut wie sein Benutzer ist. Mein Anliegen ist es, mit diesem Text zum Nachdenken anzuregen. Und dazu, sich selbst in seinem Handeln immer wieder kritisch zu hinterfragen.  Es geht auch nicht darum, hin und wieder ohne Gebiss zu reiten. Das mache ich auch gern. Es geht um die systematische Ausbildung des Reitpferdes, sofern man das Pferd zum Reiten nutzen möchte. Aber dann ist es in meinen Augen praktizierter Tierschutz, das Pferd muskulär in die Lage zu versetzen, das Reitergewicht langfristig tragen zu können, ohne daran Schaden zu nehmen.  Die Pferde werden es mit einem hohen Alter in Gesundheit danken. Und der Geldbeutel des Reiters ebenso 😉

Quelle: Zeichnung, Philippe Karl

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